Wach, verbunden und ganz da

Christiane Wolf, heute Dharmalehrerin und MBSRAusbilderin in den USA, ist von Haus aus promovierte Gynäkologin und hat früher Sexualkunde an Schulen unterrichtet. Hier erzählt sie von ihren Erfahrungen und gibt Anregungen, wie wir Sex achtsamer leben können.

 
Text: Christiane Wolf Foto: Mia Harvey

 

Vor Jahren habe ich für achte Klassen als Gastlehrerin Aufklärungsuntericht gegeben. Die Schüler wurden ermutigt, anonym Fragen abzugeben, die sie sich nicht trauten, offen zu stellen. Auf einem Zettel stand: „Spielt die Größe eine Rolle? Bitte sagen Sie nein!“ Diese Frage hat mich berührt und ist mir in Erinnerung geblieben. Sie sprach so deutlich von der Unsicherheit und dem Wunsch, so anerkannt und begehrt zu werden, wie man ist. Die Frage mag von einem 14-Jährigen gestellt worden sein, aber meiner Erfahrung nach bleiben solche Unsicherheiten oft sehr lange bestehen. Es sind Unsicherheiten in Bezug auf unseren Körper und uns selbst, und es ist eine Tatsache, dass Erregung zwar nicht vom Kopf gesteuert werden kann, aber stark von unserer Wahrnehmung und Interpretation beeinflusst ist. In anderen Situationen können wir unseren Körper bedecken oder uns intellektuell herausreden, im Bett jedoch sind wir nackt, und der Körper reagiert, wie er will. Wir sprechen ja nicht umsonst davon, mit jemandem „intim“ zu sein. Wenige andere Bereiche in unserem Leben sind so überladen mit Scham- und Schuldgefühlen. Auch hier spricht unser Vokabular Bände, wenn der Genitalbereich als Schambereich bezeichnet wird! Er ist voll von Vergleichen, von Angst vor Zurückweisung, voll mit bewussten und unbewussten Machtdifferenzen und -spielen. Auf der anderen Seite bietet Sex uns eine geballte Ladung von Gefühlen und Empfindungen an, die alle anderen im Vergleich verblassen lassen. Die Intensität ermöglicht uns wie wenige andere Aktivitäten in unserem Leben, uns wach, verbunden und vollkommen präsent zu fühlen.
Ganz bei der Sache sein
Eine viel zitierte Studie der Harvard-Universität zum Thema abschweifende Gedanken („Autopilot“) fragte die Teilnehmer über eine speziell entwickelte App zu unterschiedlichen Tageszeiten: Was machst du gerade? Woran denkst du gerade? Und: Wie glücklich bist du gerade? Es gab zwei klare Ergebnisse der Studie: Erstens, abschweifende Gedanken machen nicht glücklich, egal ob die Gedanken angenehm sind oder nicht, und zweitens, Sex war die Tätigkeit, bei der die Leute tatsächlich am meisten „ganz bei der Sache“ waren. Na, zum Glück! Sex hat also das Potenzial, uns so an den Moment zu fesseln, dass wir eben nicht so leicht in den Autopiloten verfallen, sondern ganz im Hier und Jetzt sind. Unser Gehirn funktioniert im Allgemeinen so, dass der stärkste Reiz die Aufmerksamkeit bekommt, egal ob dieser Reiz körperlich, emotional oder inhaltlich ist, wie zum Beispiel ein Konflikt mit einer Kollegin. Durch unsere Achtsamkeitspraxis haben wir gelernt, Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo wir sie gerne haben möchten, anstatt das dem Geist zu überlassen, und den Autopiloten schneller zu bemerken und zu korrigieren.
Persönliche Perspektive
Beim Thema Sexualität kommen für mich gleich mehrere wichtige Bereiche aus meinem Leben zusammen: Zum einen bin ich Achtsamkeitslehrerin und befürworte die Praxis der Achtsamkeit und liebenden Güte in allen Lebensbereichen, dann bin ich eine Frau, für die Sexualität seit jeher ein wichtiger Lebensbereich und ein persönliches Forschungsfeld ist, und schließlich finde ich als ehemalige Gynäkologin Sexualität auch von der medizinischen und wissenschaftlichen Seite her sehr spannend. Und nicht zu vergessen, bin ich Mutter von drei Teenagern, die ihnen und ihren Freunden ein bisschen mehr an Wissen und Ermutigung mit auf den Weg geben will als das, was ich selbst einst mitbekommen habe.
Sex und der Buddha
Sexualität kommt in der Lehre des Buddha kaum vor, außer vielleicht, um über deren Gefahren zu dozieren. Das ist ja auch sinnvoll, wenn man bedenkt, dass der Großteil seiner überlieferten Lehren für die ordinierte und zölibatäre Gemeinschaft der Mönche und Nonnen gedacht war. Sex war eine große Gefahr für die klösterliche Gemeinde, weil sie leicht zu Schwangerschaft und damit zu Verantwortung führte oder zu „Anhaftung“ (auch „Liebe“ genannt), was beides nicht förderlich für eine „hauptberufliche“ Vertiefung der Meditationspraxis und die Abkehr vom weltlichen Leben und dessen Genüssen ist. Buddha lehrte nicht, dass Sinnesgenuss einschließlich Sex schlecht sei, sondern er unterstützte die weltliche Verantwortung und die Freuden für alle nicht ordinierten Menschen. Er sprach auch klar von der Verantwortung und Reife, die Sex mit sich bringt, und wie wichtig es ist, mit dieser starken Energie bewusst und freundlich umzugehen. Bewusster Umgang mit Sexualität und die Vermeidung der Verursachung von Leiden ist so wichtig, dass sie eine der fünf ethischen Vorsätze im Buddhismus ist. Gleichzeitig sprach der Buddha von den Freuden und dem Geistesfrieden, die das Resultat der Entsagung der Sinnesfreuden und der Vertiefung der Meditationspraxis sind und jegliche Höhepunkte des Sinnesgenusses weit übertreffen, nach dem Motto: Tausche deine Bonbons gegen Gold ein! Aber die wenigsten von uns sind Teil einer zölibatären Klostergemeinde, und wir können Sexualität in unsere Achtsamkeitspraxis miteinschließen und uns an allen Sinnen – ethisch verantwortlich! – erfreuen.
Achtsamer Sex
Wenn wir Achtsamkeit in unsere Sexualität bringen, fällt es uns leichter, Muster zu erkennen. Wir können sie zunächst mit dem Weitwinkelobjektiv betrachten: Wie ist unser Verhältnis zu Sex? Wo können wir Identifikationen beobachten, oder was erzählen wir uns über uns selbst als sexuelle Wesen? Ist diese Geschichte hilfreich, oder wo steht sie uns im Weg? Wie und wo haben wir mit wem Sex? Oder auch nicht? Gehen wir mit unserer Sexualität verantwortlich und respektvoll um und bemühen uns, weder uns noch den Anderen damit zu verletzen, körperlich oder emotional? Begegnen wir uns und unserem Körper sowie dem Anderem und seinem Körper mit Freundlichkeit und Aufmerksamkeit? Können wir gesetzte Grenzen respektieren und anerkennen, dass wir unterschiedliche Bedürfnisse und unterschiedlichen Appetit auf Sex haben können – und das nicht persönlich nehmen? Diese Art der Achtsamkeit entspricht eher einer Reflexion und einem besonnenen Beobachten. Und dann können wir immer mehr ins Detail gehen und unseren Körperempfindungen mit freundlicher Neugier begegnen, während wir Sex haben – mit einem Partner, einer Partnerin oder mit uns selbst. Je besser ich mich kenne und weiß, was mir Freude und Lust bereitet, umso besser bin ich ausgerüstet, dies auch im Liebesspiel mit dem Partner einzuführen oder zu erbitten. Das wird umso einfacher, je mehr ich meinen Körper mag und ihm vertraue. Dafür sind wiederum die Praktiken des Bodyscans und des Selbstmitgefühls sehr hilfreich.
Orgasmus – wie wichtig ist der?
„Orgasmus oder nicht?“ ist meiner Ansicht nach die falsche Frage. Ich finde die Frage nach dem pleasure gap viel spannender. So wie beim pay gap, also der Tatsache, dass Frauen für die gleiche Arbeit immer noch weniger Gehalt bekommen, zeigen Studien auch immer wieder, dass Frauen beim Sex weniger häufig zum Orgasmus kommen. Um genau zu sein, 64 Prozent der Frauen versus 91 Prozent der Männer gaben an, einen Orgasmus gehabt zu haben, als sie das letzte Mal Sex hatten. In einer anderen Studie mit Tausenden von Frauen gaben 57 Prozent an, meistens oder immer einen Orgasmus zu haben, während 95 Prozent der männlichen Partner dieses Vergnügen hatten. Wenn Frauen miteinander Sex haben, verschwindet der pleasure gap, so wie die meisten Frauen auch beim Masturbieren zum Orgasmus kommen. Ist das überraschend? Nicht wirklich, da Frauen ihren eigenen Körper kennen und wissen, was sie anmacht, und daher auch einen anderen weiblichen Körper leichter befriedigen können. Mal ehrlich, als wir – die Heteros unter uns – anfingen, Sex zu haben, waren die meisten doch komplett ahnungslos, wie der Körper des anderen funktioniert, außer auf einer sehr abstrakten und anatomischen Ebene. Aufklärungsuntericht in der Schule war ja eher ein Abschreckungsunterricht, der vor ungewollter Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten schützen sollte und nichts davon erzählte, wie schön oder intensiv Sex sein kann. Wir müssen also unsere eigenen Forscher und Lehrer sein und mit Offenheit, Vertrauen und Liebe mit dem Partner kommunizieren lernen. Dass dabei auch schwierige Gefühle auftreten, ist zu erwarten. Aber auch damit wissen wir ja, dank unserer Achtsamkeitspraxis, umzugehen: Wahrnehmen, uns nicht damit identifizieren und freundlich zugewandt bleiben!
 

       Übungen in Ausdauer

Achtsame Kommunikation mit dem Partner
Je mehr wir akzeptieren, dass Männer und Frauen beim Sex unterschiedlich funktionieren, aber jeder lernen kann, was dem anderen das meiste Vergnügen bereitet, umso besser sind wir aufgestellt. Ganz wichtig ist es, die Grundidee zu etablieren, dass es keine Kritik ist, wenn der Partner beim Sex Wünsche äußert, sondern ein Zeichen gegenseitigen Vertrauens: Er ist an unserer Befriedigung genauso interessiert wie an seiner eigenen.
Achtsames Masturbieren
Wer sich selbst Vergnügen bereitet, kann in Ruhe erforschen, was welchen Effekt hat. Was, wie, welcher Winkel, welche Intensität usw. Masturbation ist auch ein idealer Übungsort, um wirklich ganz dicht mit der Aufmerksamkeit an den Sinnesempfindungen dranzubleiben, ohne abzuschweifen oder mental auszusteigen. Da beim Einzelvergnügen Emotionen eine eher nebensächliche Rolle spielen (auch bei Frauen), können wir uns ganz auf den sich ständig ändernden Fluss der Sinne konzentrieren. Die Aufmerksamkeit kann auch hier ausschließlich auf einen sehr kleinen Bereich, zum Beispiel die Spitze des Kitzlers, gerichtet oder ausgedehnt werden, etwa auf das ganze Becken oder den ganzen Körper.
Achtsames Streicheln/Sex mit dem Partner
Wer Achtsamkeit auch in anderen Lebensbereichen praktiziert, dem wird es nicht schwerfallen, sie auch beim Sex anzuwenden. Wem es immer wieder zu schnell und zu viel wird, um dranzubleiben, der mag vielleicht eher mit bewusstem Streicheln oder Massieren – was erotisch sein kann, aber natürlich nicht sein muss – beginnen. Wie wir es von der Achtsamkeit im Alltag kennen, wird diese umso schwieriger, je mehr passiert und je schneller das Tempo ist. Eine Verlangsamung des Liebesspiels ist hier oft auch dem natürlichen Erregungsverlauf von Frauen zuträglich!
Dieser Artikel erschien zuerst in der March 2020 Ausgabe von Moment By Moment.

Dr. Christiane Wolf ist Dharmalehrerin in der Vipassana-Tradition und MBSR-Ausbilderin.
www.christianewolf.com

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