Vom Fluch und Segen des Vergleichens

Uns Menschen ist es als sozialen Wesen in die Wiege gelegt, uns ständig mit anderen zu vergleichen. Es hilft uns, unsere Position in der Familie, Gruppe oder Gesellschaft zu finden, schafft aber auch Hierarchien und kann im negativen Sinn zu Minderwertigkeitskomplexen oder Selbstbetrug führen. Schon Buddha hat gelehrt, wie wir weise mit dem Vergleichen umgehenlernen können, um zu mehr Gelassenheit, einem gesunden Selbstwertgefühl und echtem Mitgefühl zu finden.

Als der weise Mann des Dorfes im Sterben lag, kamen alle seine Schüler zu ihm, um sich zu verabschieden. Einer nach dem anderen trat vor, um sich zu bedanken und die Tugenden des Meisters zu preisen, was dieser mit einem schwachen, dankbaren Lächeln beantwortete. „Du bist uns immer mit solcher Freundlichkeit begegnet“, sagte einer der Schüler. Ein anderer sprach von der Tiefe der Gelehrtheit, ein weiterer beklagte, dass sie nie wieder einen so sprachgewandten Lehrer finden würden. Seine Weisheit, sein Mitgefühlund sein Großmut wurden gepriesen, bis seine Frau Anzeichen von Unruhe an ihm bemerkte und die Anwesenden bat zu gehen. Sie wandte sich ihrem Mann zu, freute sich an den wunderbaren Bezeugungen seiner Weisheit und Güte und fragte, was ihn beunruhigte. „Ja, das war alles ganz wunderbar“, flüsterte er„aber ist dir aufgefallen, dass niemand meine Bescheidenheit erwähnt hat?“

Als soziale Wesen erschaffen wir uns selbst aus dem Vergleich mit anderen. Durch den Vergleich grenzen wir uns von ihnen ab und geben uns zugleich einen Platz in einer Hierarchie. Was wir als erstrebenswert, gut, richtig und schön empfinden, ist nicht als ewige Weisheit in Stein gemeißelt, sondern wird von dem Ort, an dem wir, und der Zeit, in der wir leben, bestimmt.

Seit den 50er-Jahren gibt es dazu die Theorie des sozialen Vergleichens. Dieses beruht auf den Blitzbeurteilungen unseres Gehirns, die ursprünglich als Selbstschutz sowie zur Bewertung von Bedrohungen entstanden sind und ein Teil des neuronalen Netzwerks für soziale Verbindungen sind. Wir beziehen Informationen über andere automatisch auf uns und lernen auf diese Weise unsere Stärken und Schwächen und wer wir im Vergleich zu den anderen sind.

Unsere Vergleiche richten sich jedoch auch im Zeitalter von Social Media auf Freunde, Verwandte, Nachbarn und Kollegen. Wir vergleichen uns also eher mit den Leuten, die in dem großen Haus in unserer Straße wohnen, als mit den Megareichen am anderen Ende der Stadtoder in Hollywood und eher mit der Kollegin, die die besseren Forschungsaufträge oder Verkaufsabschlüsse hat, als mit dem Boss der Firma.

Wir vergleichen uns in den Bereichen, die uns wichtig sind. Was anderen als Vergleichsmaßstab wichtig ist, mag uns völlig kalt lassen– und umgekehrt.

Positive und negative Vergleiche 

Vergleichen kann in beide Richtungen gehen. Wir können unsere Identität ebenso darauf aufbauen, schlechter oder die Schlechteste zu sein, wie darauf, besser oder der Beste zu sein.

Wer benimmt sich am meisten daneben? Werschafft es, sich bis zum Filmriss zu betrinken?

Wir vergleichen uns auch gerne mit uns selbst. Oder wir vergleichen uns mit einem unerreichbaren Idealbild.

Social Media setzt unsere Vergleiche noch unter ein Vergrößerungsglas. Wir vergleichen unser echtes, chaotisches Leben mit dem geschönten Image unserer Bekannten und Freunde auf Facebook – und fühlen uns dann minderwertig. Deren Urlaube sind aufregender, die Kinder besser erzogen und das Essen immer vielseitig und selbstgekocht. Wir wissen, dass das eine Falle ist – und trotzdem.

Das Gehirn von Teenagern ist für soziale Vergleiche leider noch anfälliger als das von Erwachsenen, weil es supercharged für soziale Belohnung ist. Es belohnt sie, wenn sie den beliebten Kids oder ihren Idolen ähnlich sind und die gleiche Meinung haben wie sie. Das erklärt, warum Teenager noch leichter abhängig von Snapchat, TikTok und Co werden als Erwachsene.

Selbstbetrug

Der Buddha lehrt, dass Vergleichen nie gut ist, egal ob wir uns nach oben oder nach unten vergleichen. Er sagt, dass wer sich selbst als besser, schlechter oder gleich in Bezug auf den Körper, die Gefühle oder den Geist sieht – die grundsätzlich vergänglich, nicht dauerhaft befriedigend und unbeständig sind –, sieht die Realität nicht. Denn wenn etwas nicht wirklich Substanz hat – in mir oder im anderen, dann ist es nicht sinnvoll, sich damit zu vergleichen.
Der Buddha sagt, dass dieses Vergleichen eine Person erschafft (Pali: mana): Ich bin dies im Vergleich zu dem. Da ich das ständig und in vielen verschiedenen Bereichen tue, entsteht daraus ein Selbstbild. Das muss dann durch konstantes Weitervergleichen aufrechterhalten werden. Es ist eine Art Selbstbetrug, aber natürlich einer, der uns als soziale Wesen funktionieren lässt. Der Buddha sagt aber auch, dass diese Tendenz im Menschen so stark ist, dass sie erst mit dem letzten Schritt der Erleuchtung erlischt. Also müssen wir lernen, bis dahin damit umzugehen.

Ein wesentlicher Aspekt der inneren Freiheit, zu der eine Achtsamkeitspraxis führt, besteht darin, dass wir nicht mehr alles so persönlich nehmen und unsere Identitäten mit mehr Gelassenheit und Freiheit sehen können. Wir sehen uns nicht mehr so sehr als feste Einheit, sondern eher als ein sich veränderndes komplexes Konglomerat. Das meinte der Buddha, als er sagte, dass wir nicht unser Gefühl von Glück und Unglück auf etwas gründen sollten, was „vergänglich, nicht dauerhaft befriedigend und unbeständig“ ist.

Selbstwertgefühl

Aber besser als andere zu sein, tut dem Selbstwertgefühl doch gut. Ist das denn schlecht? Nein, aber es scheint eher umgekehrt zu sein: Wer ein wackeliges Selbstwertgefühl hat, neigt eher zu negativem Vergleichen.

Studien, die das Selbstwertgefühl und das Selbstmitgefühl vergleichen, zeigen, dass Letzteres der stabilere und verlässlichere Gefährte durch die Höhen und Tiefen des Lebens ist. Das Selbstwertgefühl ist zu eng mit Leistung, Wertung und eben Vergleichen verbunden. Das Selbstmitgefühl dagegen unterstützt uns besonders dann, wenn es mal nicht so rosig aussieht.

Vergleichen kann allerdings auch motivierend und inspirierend wirken, nach dem Motto: Konkurrenz belebt das Geschäft! In dieser Hinsicht kann ich Vergleichen auch positiv nutzen: wenn es mich anspornt, ohne mich fertigzumachen, und solange ich nicht glaube, dass mein Selbstwert vom Ergebnis abhängt. Wenn ich als Kind meinen Teller nicht leer essen wollte, wurden mir regelmäßig die „verhungernden Kinder in Afrika“ vorgehalten. Wenn ich mich nicht dankbar dafür zeigte, was meine Eltern für mich taten, wurde mir entgegengehalten: „Was hätte ich nicht als Kind dafür gegeben, xyz zu haben!“ Ich fand dieses Vergleichen immer schrecklich. Aber nun beobachte ich mich als Mutter selbst dabei. Es macht mich verständnisvoller meinen Eltern gegenüber – und wacher in Bezug auf mich selbst.

Worin liegt der Unterschied zwischen Vergleichen und Wahrnehmen? Ich muss ja wahrnehmen, um mich für eine Handlung zu entscheiden. Worin liegt der Unterschied zwischen der einfachen Wahrnehmung, dass jemand Hilfe braucht, und dem Vergleich, dass es mir „so viel besser“ geht, aus dem heraus ich Hilfe anbiete? Im ersten Fall praktiziere ich Mitgefühl („Ich bin mit dir in deinem Schmerz“), im zweiten Mitleid („Ach, ihr Armen da unten“).

Die Schmerzhierarchie

Ich leite eine Ausbildungsgruppe in Achtsamkeit für Ärzte, Psychologen und andere Krankenhausmitarbeiter. Bei unseren wöchentlichen Online-Treffen erzählte einer der Teilnehmer, er schäme sich dafür, dass er sich große Sorgen um seine Schwester mache, die ihr kleines Restaurant unter den Covid-Restriktionen habe schließen müssen. „Aber das ist so unbedeutend im Vergleich zu dem, was ich jeden Tag im Krankenhaus sehe“, sagte er. Andere Teilnehmer nickten zustimmend. Ja, ihnen ginge es ähnlich. Man könne sich doch nicht um jedes Wehwehchen kümmern!

Wir haben Angst, uns in Selbstmitleid und Wehleidigkeit zu verlieren. Das Problem ist, dass wir damit unseren eigenen Schmerz abtun oder sogar verleugnen. Aber er verschwindet nicht. Er macht uns nur gereizt und dünnhäutig.

Wir haben eine Schmerzhierarchie im Kopf. Wir entscheiden, mal mehr, mal weniger bewusst, was es wert ist, gefühlt und betrauert zu werden. Tatsächlich aber gibt es keine Hierarchie der Schmerzen. Es gibt nur Schmerz, und der muss gefühlt werden, damit er sich verwandelt oder sogar auflöst.

Gelassenheit finden

Die Schmerzhierarchie führt auch dazu, dass Menschen mit „großem“ Schmerz ihn nicht mitteilen, weil sie Angst haben, ihr Gegenüber zu überfordern und so dazu zu bringen, sich vor ihnen zu verschließen. Wer hat nicht schon einmal etwas Schmerzhaftes verschwiegen, um andere nicht zu belasten, um deren gutgemeinte Ratschläge oder deren Hilflosigkeit nicht ertragen zu müssen? Und jene mit den „kleineren“ Schmerzen haben das Gefühl, ihr Schmerz sei zu nichtig und daher nicht erwähnenswert. Letztlich führt das dazu, dass niemand gehört und niemandem mit Mitgefühl begegnet wird!

Wir müssen lernen, uns nicht so vor Schmerz zu fürchten, sondern ihn mehr als einen zu erwartenden Teilnehmer des Lebens zu begrüßen. Wenn wir nicht gelernt haben, wie wir mit unserem eigenen Schmerz umgehen können, ist es uns oft auch nicht möglich, den Schmerz anderer mitfühlend zu bezeugen, ohne sofort in Aktivismus zu verfallen. In Gesundheitsberufen wird die Kunst des achtsamen Zuhörens leider auch nicht gefördert, der Blick ist auf die Lösung und das Reparieren gerichtet.

Wir praktizieren Selbstmitgefühl mit dem eigenen Schmerz und Mitgefühl mit dem Schmerz von anderen, nicht um den Schmerz wegzuzaubern, sondern, weil da Schmerz ist. Und Schmerz verdient Mitgefühl.

Erfreulicherweise zeigen Studien, dass die Tendenz, sich zu vergleichen, mit dem Alter nachlässt. Vielleicht kennen wir uns besser und akzeptieren uns mehr, vielleicht setzt sich etwas wie Altersweisheit durch, und wir sehen, dass wir trotz unserer lebenslänglichen tatsächlichen oder eingebildeten Unzulänglichkeiten doch immer von nahen Menschen umgeben gewesen sind.

Gewahrsein schaffen

Achte während des Tages darauf, wo du dich mental (oder auch verbal) vergleichst. In welchen Bereichen? Mit wem? Was macht das mit dir? Wie fühlst du dich dabei? Fühlst du dich besser, schlechter oder macht es keinen Unterschied? Führt das Vergleichen zu Verhaltensänderungen? In welchen Bereichen lassen dich Vergleiche kalt?

Genauer hinschauen

In den Bereichen, wo du dich durch Vergleichen besser oder schlechter fühlst, schau genau hin (Interesse ist ein Teil der Achtsamkeit!), was du durch den Vergleich gewinnst, im Positiven oder im Negativen. Das gilt besonders da, wo du Verhaltensänderungen bemerkst.

Reflektiere

Denk darüber nach, welche Faktoren eine Rolle beim Ziel deines Vergleichs spielen. Die schlanke Figur der Freundin z.B. hat nicht nur mit ihrer Ernährung und ihrem Sportprogramm zu tun, der tolle Urlaub der Nachbarn nicht nur damit, wie die Bilder auf Facebook aussehen.

Wer tiefer in die buddhistische Psychologie einsteigen mag, reflektiert über Unbeständigkeit und Vergänglichkeit. Wenn etwas keine Substanz hat, ist es sinnlos, sich damit zu vergleichen!

Handeln

Der einfachste Weg, um das Vergleichen zu stoppen, ist, innerlich STOPP zu sagen, sobald wir es bemerken, und unseren Fokus auf etwas anderes zu richten. Das geht umso besser, je klarer uns wird, dass uns das Vergleichen nicht guttut. Wenn das Selbstwertgefühl wackelig ist, hilft es, sich seiner Stärken und guten Eigenschaften zu erinnern und Dankbarkeit zu praktizieren.

Social Media

Wenn du merkst, dass du dich nach einer halben Stunde Facebook schlechter (unsicher, unzulänglich, mehr Selbstzweifel oder sogar Selbsthass) als vorher fühlst, ist es Zeit für einen Facebook-Entzug. Das Gleiche gilt natürlich auch für andere Medien. Warum solltest du dir selbst wehtun?

Studien zeigen, dass Menschen, die auf Facebook aktiv mit anderen Kontakt aufnehmen und kommentieren, anstatt nur passiv durch den Feed zu scrollen, nicht so leicht in die Spirale des negativen Vergleichens gezogen werden.

Dieser Artikel erschien zuerst in der April 2020 Ausgabe von Moment By Moment.

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