Nimm das doch nicht so persönlich!

Ein gut gemeinter Ratschlag – vielleicht geben wir ihn uns sogar selbst. Was ist es, was uns so überaus verletzbar macht? Inwieweit sind wir es selbst? 

Text: Christiane Wolf | Foto: Eugenia Maximova *

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Haben Sie schon mal den gut gemeinten Ratschlag bekommen, eine bestimmte Situation doch nicht so persönlich zu nehmen? Oder versucht, sich klarzumachen, dass Sie nur der Platzhalter für den Ärger eines anderen waren? Sie sind zu einer Veranstaltung oder Party nicht eingeladen worden. Ihr Chef ist in letzter Zeit meist unfreundlich und kurz angebunden. Ihre Tochter hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und wird von Klassenkameraden gehänselt. Meine Mutter fragte mich oft, wenn ich mich über etwas ärgerte, warum ich mir denn diesen Schuh anzöge? Dann würde er ja offensichtlich passen. Meistens nervte mich das, denn es zeigte klar, dass mich die Sache getroffen hatte, dass ich mich mit ihr identifizierte und damit ärger-bar war. Was nehmen wir persönlich und was nicht? Was ist tatsächlich persönlich und was nicht? Oder ist vielleicht die wichtigere Frage: Was macht das mit uns, wenn wir etwas persönlich nehmen, egal ob es so gemeint war oder nicht?

 

 

Identifiziert mit unseren Rollen

Jeder von uns hat unzählig viele Rollen und Identifizierungen, deren Gesamtheit wir als „Ich“ oder „unser Selbst“ bezeichnen. Das geht von unserer Rolle im Beruf („Ich bin Lehrer“) über die Familie („Ich bin Mutter“) bis zu unseren Vorlieben und Abneigungen („Ich liebe italienische Küche“,„Mit großen Partys kann man mich jagen“). Wenn diese Rollen infrage gestellt oder angegriffen werden, fühlt sich das schnell wie ein persönlicher Angriff an. Wenn jemand hier meine Kompetenz anzweifelt, fühle ich mich gekränkt. Mütter, die arbeiten, fühlen sich von Müttern, die den Beruf aufgegeben haben, angegriffen und umgekehrt. Wir schaffen ein Selbst, ein „Das bin ich“, und dann verteidigen wir es gegen Angriffe. Was ist dieses Selbst, das, womit ich mich gerade identifiziere? Das ändert sich. Vielleicht habe ich mich jahrelang als zufriedener Single verstanden und jetzt bin ich glücklich verheiratet? Ich war lange gesund und jetzt habe ich eine chronische Krankheit? Gibt es etwas, was all diese Wechsel überlebt und beständig ist? Wenn der Buddha gefragt wurde, ob es ein beständiges Selbst gäbe oder nicht, hat er entweder gar nicht geantwortet oder gesagt, die Frage sei falsch gestellt. Fragen dieser Art stürzten uns nur in philosophische Verwirrung, ließen die wesentliche Frage jedoch unbeantwortet.

Das hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun

Die wichtigste Frage, die wir uns stellen sollten: Was, das ich tue oder lasse, führt zu beständigem Glück und Wohlergehen? Zu wissen, ob das Selbst beständig ist oder nicht, bringt uns dauerhaftem Glück nicht näher. Anders ist es, wenn wir unsere Wahrnehmungen, Überzeugungen und die Handlungen, die daraus folgen, in Augenschein nehmen. Führen sie mich und letztlich alle anderen zu mehr Freundlichkeit, Gelassenheit und innerer Freiheit oder nicht? Bezogen auf unser Thema: Ist es hilfreich, wenn ich das jetzt persönlich nehme, oder nicht? Wenn ich etwas nicht persönlich nehme, heißt das nicht, dass es mir egal wäre oder ich es weiter geschehen ließe. Es heißt nur, dass ich den Aufprall für mich selbst abfange oder wenigstens abmildere. Ich praktiziere das aus Respekt und Mitgefühl mir selbst gegenüber. Der Dalai Lama zitiert gerne die alte buddhistische Weisheit: „Wenn du etwas ändern kannst, dann brauchst du dich nicht darüber zu ärgern oder deswegen zu sorgen, sondern du änderst es einfach. Und wenn du etwas nicht ändern kannst, hat es keinen Sinn, dich darüber zu ärgern oder deswegen zu sorgen.“ Leichter gesagt als getan, aber eine gute Erinnerung.

Unser Feingefühl gegenüber unseren Absichten

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass wir unser eigenes Handeln durch die Brille unserer Absichten sehen, die Handlungen anderer aber anhand der Auswirkungen beurteilen? Wir wissen, dass wir „das nicht so gemeint haben“. Aber wenn uns etwas verletzt, gehen wir erst mal davon aus, dass es Absicht oder dem anderen egal gewesen war. Oft nehmen wir uns dann nicht die Zeit, nachzufragen. Oder wir erleben, dass unsere Nachfrage mit einem defensiven „Aber das war ja nicht so gemeint“ beantwortet wird, was nicht gerade zur Entspannung der Situation beiträgt. Können wir selbst im umgekehrten Fall annehmen, dass der andere sich verletzt fühlt, und zuhören, warum?

Sowohl persönlich als auch unpersönlich

Wir sind komplexe und komplizierte Wesen und oft werden wir an früher Erlebtes erinnert. Wir tragen unsere eigenen Erlebnisse und Geschichten in uns als Verhaltensschablonen und haben von unseren Eltern und unserer Umgebung deren Geschichten und Interpretationen der Welt weitergereicht bekommen. Wir wissen, dass Traumata, besonders solche aus der Kindheit, oft an die nächste Generation weitergereicht werden. Ist das persönlich? Wenn ich von Eltern, die selbst geschlagen worden waren, geschlagen wurde, wenn Alkohol oder andere Rauschmittel mit im Spiel waren, ist das persönlich gegen mich gerichtet, oder bin ich nur ein Platzhalter, ein Auslöser? Kann etwas zugleich zutiefst persönlich und unpersönlich sein? Der indische Weise Maharaj Nisargadatta sagte: „Weisheit sagt, ich bin nichts, Liebe sagt, ich bin alles. Und zwischen diesen Polen fließt mein Leben.“ Das sind tiefe Fragen, die wir nur für uns alleine beantworten können. Ich habe vor Kurzem ein Schweige-Retreat mit dem Thema „Wer bin ich denn wirklich?“ unterrichtet. Danach erzählte mir eine Teilnehmerin, dass sie zum ersten Mal habe sehen können, dass die oft verletzenden Reden und Handlungen ihres jüngeren Bruders sowohl persönlich als auch unpersönlich gewesen seien. Dass er seine Eifersucht auf jede ältere Schwester losgelassen hätte, nicht nur auf sie, und dass seine fortwährende Unfähigkeit, seine Gefühle gegen sie im Zaum zu halten, auch jetzt noch als Erwachsener, seine Arbeit sei, nicht ihre. „Ich kann endlich meine Rolle loslassen, mich schuldig zu fühlen und ihn ständig beschwichtigen zu wollen“, sagte sie. Je klarer ich sehen kann, wie oft ich in meiner Sichtweise der Welt gefangen bin und aus dieser Perspektive heraus handle, umso mehr sehe ich das auch bei anderen. Und umso einfacher kann ich mich von dem Joch, mich persönlich angegriffen zu fühlen, befreien. Die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Auswirkungen es auf mich und mein Verhalten hat, wenn ich etwas persönlich nehme oder nicht, ist eine spannende Herausforderung. Wie viel an innerem Ballast kann ich loslassen, wie viel Freiheit und inneren Raum kann ich einladen?

Rollenfreiheit

Versuchen Sie mal, Ihre Rollen nur dann „anzuziehen“, wenn sie tatsächlich gebraucht werden. Müssen Sie Mutter sein oder Bruder oder Chefin, wenn Sie alleine Auto fahren? Wie wäre es mit einfach nur Auto fahren? Sehen, spüren, da sein. Und wenn Sie dann mit Ihren Kindern zusammen sind, seien Sie Mutter und lassen Sie die anderen Rollen, etwa die Chefin, los. Oder schauen Sie, was passiert, wenn Sie mal eine Rolle, die von Ihnen erwartet wird, nicht einnehmen.

RAIN – Umgang mit schwierigen Gefühlen

R: Recognize – Innehalten. Ein Moment des Wachwerdens zu unserer Erfahrung.

A: Acknowledge/Allow – Wahrnehmen/Erlauben. Das Gefühl ist Teil unserer Erfahrung, ob wir es wollen oder nicht.

I: Investigate with kindness/interest – Freundliches, interessiertes Erforschen des Gefühls. Wie fühlt sich das Gefühl an, wo im Körper ist es zu spüren?

N: Non-identify – Nicht persönlich nehmen. Kann ich das Gefühl erlauben, ohne mich damit zu identifizieren?

Persönlich/unpersönlich

1. Schicht: In Alltagssituationen darauf achten, wo sich etwas persönlich anfühlt und wo ich bereits weiß, dass es das nicht ist, zum Beispiel im Straßenverkehr oder beim Kundenservice am Telefon. Kann ich es eher als unhöflich oder achtlos sehen denn als persönlich gegen mich gerichtet? 2. Schicht: Jemand macht eine abfällige Bemerkung über jemand anderen und meint damit etwas, was ich auch als Teil meiner Persönlichkeit empfinde. Etwa: „Mütter mit Kinderwagen meinen immer, ihnen stünde alles zu.“ Oder: „Mit so einem Hintern sollte man keine Stretchjeans tragen.“ Oder: „Manche Leute sind immer die Ersten in der Mittagspause.“ 3. Schicht: Jemand, der mir nahesteht, sagt oder handelt mir gegenüber verletzend. Kann ich den inneren Raum so erweitern, dass ich zumindest die Möglichkeit sehe, dass die Reaktion mehr mit dem Innenleben und der Wahrnehmung und Interpretation dieser Person zu tun hat als mit mir? Dass ich nur ein Platzhalter bin? Was verändert sich?

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